Ein Frauenhaus ist immer auch ein Kinderhaus
Marvin ist 7 Jahre alt. Er musste mitansehen, wie der Vater seine Mama bedrohte, beschimpfte, mit Gegenständen bewarf und schlug. Zuletzt versteckte er sich mit seiner kleinen Schwester und seiner Mutter Alina oft im Kinderzimmer. Sie verschlossen die Tür von innen, wenn Papa wieder einmal betrunken nach Hause kam. Bis eines Tages Alina das Nötigste zusammenpackte und mit den Kindern ins Frauenhaus Bochum flüchtete.
Kinder leiden mit
Marvin lebt jetzt mit 14 Kindern sowie 13 Frauen und Müttern in unserem Haus. Die erlebte Gewalt geht nicht spurlos an ihm vorbei. Er ist wütend und ablehnend. „Es ist nicht die Regel, dass der Täter auch seine Kinder schlägt“, erklärt Irene, eine unserer Sozialpädagoginnen im Frauenhaus Bochum. „Er richtet seine Gewalt meistens gegen seine Partnerin. Aber Kinder sind insofern betroffen, als sie Gewalt gegen ihre Mütter miterleben müssen. Kinder selbst erleben Gewalt eher psychisch: Der Vater wertet seine Kinder ab, macht sie nieder, vernachlässigt sie. Zu uns flüchten aber auch Frauen, deren Partner ausschließlich Kinder schlagen.“
Die Gewaltsituation mitansehen und anhören zu müssen, belastet, verunsichert und überfordert Kinder und Jugendliche. „Das Schlimme ist: Das eigene Zuhause sollte ein sicherer Ort sein. Wenn dieser Ort nicht mehr sicher ist, empfinden die Kinder ihn als bedrohlich und schutzlos.“
Jungen bis 14 Jahren
Die meisten Kinder im Haus sind aktuell unter drei Jahre alt. Doch die Altersstruktur schwankt. Durchschnittlich sind sie unter sechs Jahre alt. Jungen nehmen wir nur bis zu einem Alter von 14 Jahren auf – weil wir keine getrennten Räumlichkeiten anbieten können und wenig Abgrenzung möglich ist. Auch das Zusammentreffen von pubertierenden Jungen auf beispielsweise 18-jährige Bewohnerinnen ist nicht unproblematisch. Es kann passieren, dass die Jungen ihnen nachstellen.
Sozialpädagogin Silke berichtet: „Zusätzlich erleben wir bei älteren Jungen Verhaltensweisen, die sie von außen mit ins Haus bringen: Sie übernehmen – anstelle des Vaters – die Rolle des Familienoberhauptes und wollen beispielsweise entscheiden, welche Kleidung ihre Mütter und ihre Schwestern tragen, wohin sie gehen oder wie sie sich schminken dürfen.“
Vom alten Leben trennen
Für Marvin und die anderen Kinder ist es schwierig, sich einzufinden: Sie haben ihren Schul- bzw. Kitaplatz, ihre Freund*innen, ihre Verwandten, ihre Kinderzimmer und auch ihr Spielzeug verloren. Die Sozialpädagoginnen Irene und Silke unterstützen sie sowie ihre Mütter dabei anzukommen. Sie führen durch das Haus, erklären die Regeln, sprechen mit den Neuankömmlingen, um zu erfahren, wie es den Kindern geht und was sie erlebt haben, und helfen Müttern bei der Suche nach einem neuen Schulplatz. „Wenn nötig, suchen wir einen Kindergartenplatz bzw. eine Tagesmutter“, berichtet Irene. „Aber besonders Kindergartenplätze zu finden, ist problematisch. Etliche Kinder warten in Bochum auf einen Kitaplatz. Da die Fluktuation unter unseren Kindern naturgemäß hoch ist, scheuen sich Kindergärten, Plätze für Übergangszeiten zu vergeben. Deshalb freuen wir uns immer sehr, wenn wir eine Kita gefunden haben.“
Manche Kinder sind offen, manche introvertiert
So unterschiedlich Charakter, Alter und Gewalterfahrungen unserer Kinder, so unterschiedlich verhalten sie sich: Manche sind offen und erzählen viel, andere sind introvertiert und sprechen kaum. Manche sind aggressiv, üben Gewalt gegen sich, ihre Mütter und andere Kinder aus, andere sind sehr anlehnungsbedürftig.
Marvin kann sich schlecht in der Schule konzentrieren, hat Durchschlafstörungen und ist oft zornig. „Wenn er uns über seine Gewalterfahrungen berichtet, dann fast nebenbei im Spiel oder beim Spaziergang. Gegenüber anderen Kindern traut er sich öfter, darüber zu sprechen“, beschreibt Silke sein Verhalten. „Wir sprechen mit den Kindern über ihre Gewalterfahrungen und unterstützen sie bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse. Bei Bedarf vermitteln wir sie an Neue Wege, die Beratungsstelle unseres Caritasverbandes gegen Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch von Kindern. Daneben arbeiten wir mit einer Kinderärztin zusammen, die die Situation der Kinder sehr gut im Blick hat und bewerten kann.“
Wir leben Gemeinsamkeit vor
Das Wichtigste ist jetzt: Dass wir den negativen Erfahrungen von Marvin, den anderen Kindern und Müttern positive Erlebnisse entgegensetzen. Und wir ihnen zeigen: Dieser Ort ist für euch ein sicherer Ort. Ein Ort, an dem ihr gesehen werdet. Ein Ort der Empathie und Wertschätzung.
Wir leben ihnen Gemeinsamkeit vor, frühstücken, wandern, gehen in den Tierpark, in den Stadtpark, besuchen einen Bauernhof und feiern Feste wie Karneval, Weihnachten, Ostern oder Fastenbrechen. Wir basteln und spielen. Nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit Müttern; manche haben das tatsächlich noch nie getan. „Es ist schön, wenn Mütter ihre Kinder erleben, sehen, dass sie Spaß haben, sich begeistern, tanzen und lachen. Von diesen tollen Erfahrungen zehren alle“, sagt Irene. „Das Ziel unserer Arbeit ist, dass alle Freude empfinden: Kinder, Mütter – und wir. Denn wenn wir Freude an der Arbeit haben, können wir diese Freude weitergeben.“
Unsere Arbeit ist abwechslungsreich – das macht sie spannend
Silke ergänzt: „In der Arbeit mit Kindern ist es aber auch wichtig, eine gewisse Stressresistenz zu entwickeln, besonders wenn der Geräuschpegel hochfährt. Und wir müssen flexibel bleiben: Das Leben hier ist nicht planbar. Heute betreuen wir zehn Kinder, morgen können es nur vier sein. Wir passen unseren Einsatz dem aktuellen Bedarf an. Dementsprechend fördern wir die Kinder in Spiel- und Fördergruppen sowie Einzelsettings. Wir unterstützen sie bei Hausaufgaben oder im Homeschooling.“
Daneben begleiten die Sozialpädagoginnen zu Arzt- oder Gerichtsterminen, besprechen sich mit Jugendamtsmitarbeiter*innen und Lehrer*innen, schreiben Berichte, gestalten Arbeitskreissitzungen, koordinieren die Spendenverteilung, übernehmen Öffentlichkeitsarbeit und besuchen Fortbildungen. Bei allem sind sie gut eingebettet in ein funktionierendes Netzwerk. „Unsere Arbeit ist sehr abwechslungsreich – das macht sie spannend“, sagt Silke.
Wir sind parteiisch – immer auf der Seite des Kindes
Marvin telefoniert ab und an mit seinem Vater, treffen möchte er ihn nicht. Kinder gehen unterschiedlich mit dem Kontakt zum Vater um: Jüngere telefonieren eher mit ihnen und besuchen sie. Manche lehnen den Kontakt ab, sind ängstlich oder meiden ihre Väter. Das Recht auf Umgang haben beide Elternteile, solange das Kindeswohl nicht gefährdet ist. „Grundsätzlich aber stehen Kinder immer an erster Stelle. Wir sind ihnen gegenüber parteilich“, so beschreibt es Irene. „Wir nehmen ihre Bedürfnisse ernst und handeln in ihrem Interesse. Wir unterstützen sie bei der Wahrung ihres Rechts auf eine gewaltfreie Kindheit.“
Ins neue Leben finden
Besonders herausfordernd war für Marvin, dass seine Mutter Alina wieder zurückgekehrt ist zum gewalttätigen Vater. „Auch für uns ist es immer schwierig, diese Entscheidungen der Mütter anzunehmen. Sie sind traumatisiert und schaffen es leider nicht, ihren eigenen Weg zu gehen“, berichten die Sozialpädagoginnen. Doch Alina kommt ein zweites Mal ins Frauenhaus Bochum und findet anschließend eine Wohnung sowie eine Arbeitsstelle. Marvin schafft es sogar auf die Realschule. „Es ist toll zu sehen, wie sie ins Leben finden. Wir wünschen ihnen und all unseren Kindern eine gewaltfreie Kindheit, in der sie ein normales Leben führen dürfen, die Zeit genießen können und alles Schöne erleben, das andere Kinder auch erleben.“
Freie Plätze
Übersicht im Frauen-Info-Netz
Sind Sie akut von Gewalt bedroht, informieren Sie sich im Frauen-Info-Netz über freie Frauenhausplätze in NRW. Haben wir freie Plätze, können Sie uns anrufen. Über eine Rufumleitung aufs Notrufhandy sind wir auch außerhalb der Bürozeiten erreichbar.